19
Jul
2007

Prinzessinnen

Erinnern wir uns noch einmal daran, daß der Tantrismus den Versuch macht, den Zwiespalt zwischen der physischen Welt und der inneren Wirklichkeit zu heilen. Entsprechend gibt es auch bei der Interpretation der Mythen zwei Ansätze:
eine psychologische, bei der C.G. Jung und Kerényi hervorragen und eine historische, für die hier Ranke-Graves genannt sei. Die Tiefenpsychologie erkennt in den Mythen die Urgründe der Menschenseele, ja die Urnormen und Urformen des Lebens. Aus dem Mythos entsteht die psychologische Welt des Menschen:
"Er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, die in das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert (Thomas Mann.) So stellt das Mythische ein überindividuelles, archetypisches Reservoir von Bildern dar und eine die Seele des Menschen mit Gestalten und Ereignissen füllende Macht. Es ist der Stoff, aus dem unsere Träume gemacht sind und wer die Seele des Menschen entschlüsseln will, muß dessen Mythen entschlüsseln. Die Mythologie wird hier als eine "Kollektivpsychologie" bezeichnet, "als ein gemeinsames Beherrschtsein durch Überindividuelles in erfahrbaren Bildern" (Kerényi).




Ranke-Graves hingegen, der, wie er schreibt, aufgrund seiner bewußtseinserweiternden Experimente durchaus einen Einblick in die Mysterien erhielt, behandelte die griechische Mythologie als politisch-religiöse Geschichte. Für ihn läßt sich die Götterwelt nur eingebettet in die große geschichtliche Auseinandersetzung zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Europa begreifen. Das alte Europa kannte, nach seinen Forschungen, keine Götter. Die "Große Göttin" allein wurde als unsterblich, unveränderlich und allmächtig verehrt. Ihre Macht zeigt sich darin, daß die Bedeutung der Vaterschaft noch nicht in die religiösen Vorstellungen einging. Zwar verfügte sie über Liebhaber, doch nur zu ihrem Vergnügen. Die Menschen fürchteten die Stammutter, opferten ihr und beteten sie an. In den Hütten und Höhlen war ihr Zentrum der Herd, ebenfalls der Mittelpunkt des damaligen Lebens, der Nabel der Gemeinschaft und Symbol für das Urmysterium der Mutterschaft. Auch Ranke-Graves wagt einen Blick nach Indien, wo sich bis heute noch matrilineare Gesellschaften, die Nagas, im Süden erhalten haben. Bei ihnen gebären die Prinzessinnen ihre Kinder von Liebhabern ohne Rang und Namen.



Aus:
Wolfgang Bauer, Irmtraud Dümotz, Sergius Golowin: Lexikon der Symbole, Fourier Verlag Wiesbaden, 1982

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