9
Jun
2006

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Psychotherapie, Kreativität und Kollektivität

Ich denke daran, was Doris Lessing in The Four-Gated City schrieb: "In jeder Situation an jedem Ort gibt es immer eine Schlüsseltatsache, die Essenz. Meist sind es aber alle möglichen anderen Tatsachen, Tausende von Tatsachen, die wahrgenommen, erörtert, besprochen werden. Die wesentliche Tatsache wird meist ignoriert oder nicht gesehen." Und ein Satz von Yukia Mishima in Spring Now lautet: "Inmitten einer Ära zu leben heißt, sich ihres Stils nicht bewußt zu sein."
Für Doris Lessing wäre es wohl eine Schlüsseltatsache der vierziger Jahre, daß sehr unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in unterschiedlichen Medien parallellaufende revolutionäre Neuerungen durchführten. Offensichtlich ist hier etwas im Gange, das nicht mit Einzelmenschen oder Individualität oder irgendetwas zu tun hat, das in einer psychologischen persönlichen Geschichte aufzufinden wäre, was ein Hinweis darauf ist, daß eben auch das kostbare Material, das wir Kreativität nennen, entscheidende kollektive Elemente hat, über die wir hier noch nicht nachgedacht haben.
Nur C.G. Jung hat den Begriff der kollektiven Psychologie ernsthaft untersucht, doch sind seine bahnbrechenden Konzepte der Synchronizität und des kollektiven Unbewußten mehr Beschreibungen der Phänomene als Werkzeuge für das Nachdenken und die Veränderung. Der Beweis hierfür ist, daß die Begriffe so selten von den Jungschen Therapeuten in der Praxis angewandt werden.



Künstler und Wissenschaftler sprechen manchmal von diesen Dingen. Einstein, der einen Teil seiner Theorien träumte, hatte die Empfindung, daß seinen Ideen ihm von außen zuströmten. Dizzy Gillespie sagte:
"Die ganze Musik ist zunächst einmal außen. Die Musik war von Anfang an da. Man muß einfach versuchen, ein kleines Stück davon zu erwischen. Es ist egal, wie großartig man ist - man bekommt immer nur ein kleines Stück davon."
Das Phänomen wird angedeutet, erwähnt, und manchmal gibt es auch Scherze darüber, doch ist der Westen mit Ausnahme Jungs noch weit davon entfernt, darüber nachzudenken oder es gar in seine Auffassung von Geschichte, Kritik oder Psychologie zu integrieren.
Man könnte sagen, daß etwas durch das Kollektive strömt und in unterschiedlichen Medien von unterschiedlichen Menschen aufgegriffen und ausgedrückt wird, und daß dieser Ausdruck eine Art Subkollektiv um sich konstelliert, einen Musikstil, oder eine Malereischule oder einen Zweig der Wissenschaft, um diesen Impuls, der ursprünglich aus dem oder durch das Kollektiv kam, für das Kollektiv wieder sichtbar zu machen. Dieses Etwas, dieser Impuls, diese Idee hat weniger Willen als vielmehr eine Kraft - eine Kraft, die so stark ist, daß sie von einzelnen Menschen (einzelnen Wissenschaftlern oder Künstlern oder Denkern) als innerer Zwang empfunden wird, als etwas, das sie ausdrücken müssen. Das westliche Denken faßt diese Äußerung als persönliche Leistung auf, als Ausfluß von Charlie Parkers oder Jackson Pollocks Kreativität, doch glaube ich, daß sie weit weniger persönlich ist, als es den Anschein hat. In The Education sagt Henry Adams: "Empfänglichkeit für die höchsten Kräfte ist der höchste Genius."




Der Genius eines Parker oder eines Pollock oder eines Jung liegt nicht darin, was sie hervorbringen, sondern darin, wofür sie empfänglich sind, wie offen oder empfänglich sie für diese Impulse bleiben, und in der Technik und Entschlossenheit, mit der sie diese Empfänglichkeit wahren und ausdrücken. Nicht, daß in unserem individuellen Tun keine tiefe persönliche Originalität und Courage läge; aber das, mit dem wir als Individuum arbeiten, ist ein Impuls oder eine Welle oder eine Kraft, die das Kollektiv durchströmt, dem wir angehören. Be-gabungen sind Gaben.




Was hat dies mit der Psychotherapie zu tun? Nicht weniger als alles. Solange es der Therapie nicht gelingt, zu einer besseren Anschauung über das Kollektive zu kommen und zwischen kollektiven und individuellen Impulsen und Kräften zu unterscheiden und wahrzunehmen, welche Wechselwirkungen hier bestehen, so lange kann sie die Welt und den einzelnen Menschen nicht umfassend ansprechen. Denn wenn das, was ich sage, irgendwie richtig ist, dann behandelt die Therapie nur einen Teil des Individuums, und die Therapie ist sich nicht einmal sicher, welchen Teil. Wie dieses Individuum einen kollektiven Impuls ausdrückt oder leugnet, auslebt oder abwehrt, wird noch nicht einmal ansatzweise diskutiert.
Für die Psychotherapie wäre das, was Doris Lessing als Schlüsselerlebnis bezeichnet, daß selbst die offensichtlichsten Formen kollektiven Verhaltens (eine totalitäre Basisbewegung, eine Kinderbande oder ein Modefimmel) überhaupt nicht wahrgenommen worden. Aber etwas, über das man noch nicht nachzudenken gelernt hat, kann man auch nicht behandeln oder ändern.




Nun, Jim, wenden wir dies alles auf Sie und mich und darauf an, wie unsere einzelnen Stimmen in den Abschriften manchmal wie bei zwei Jazzmusikern, die sich im Wechsel einen Riff weitergeben, zu einer Art gemeinsamer Stimme zusammenfließen. Ich würde sagen, daß das, worauf wir eingestimmt sind, was durch uns kommt, zumindest teilweise der Beginn der Artikulation eines neuen theoretischen Rahmens ist, der die Psychotherapie im besonderen und das westliche Denken im allgemeinen auf die Reiche des Kollektiven ausdehnen würde. Wir sind nicht die Leute, die den neuen theoretischen Überbau bauen werden. Dies ist das Werk des nächsten Jahrhunderts, und irgendwie ist auch der Aufbau eines Überbaus nicht die Arbeit, zu der es uns beide hinzieht. Wir sind Initiatoren, Anreger, begriffliche Abenteurer, wenn Sie so wollen, durch die der neue theoretische Rahmen Fühler ausstreckt, sich ankündigt, in das Ohr der Psychotherapie flüstert, ihr an seltsamen Orten verschlüsselte Notizen hinterläßt, unter ihrem Fenster singt. Dieser Impuls, diese neue Konstellation von Ideen zieht unsere Stimmen auf sich und macht sie in diesem speziellen Augenblick und diesem speziellen Werk einander ähnlich, wen wir zusammen sprechen, weil der Impuls in dem Augenblick, in dem wir ihn gleichzeitig aufrufen, anrufen, uns gleichzeitig entgegenkommt. Beim Schreiben aber treten alle unsere Unterschiede wieder zutage.



Aus:
James Hillman, Michael Ventura: Hundert Jahre Psychotherapie und der Welt geht's immer schlechter, Walter Verlag Zürich Düsseldorf 1993

Bestellt bei:
Werner Pieper And The Grüne Kraft


Keywords:
Coach, Coaching, C.G. Jung, Gender, Gendercoaching, Gender coaching, Gender-Coaching, Gender Mainstreaming, Genius, Individualität, Individuum, Köln, Kollektiv, Kollektivität, Kreativität, Psychologie, Psychotherapie, Synchronizität, Therapie
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