... Dadurch und durch das Begehen von grausamen Handlungen an anderen Lebewesen lernt das Kind, es sei "genauso wie" die Täter. Diese Fehlinformation aufzudecken, wird der Kern der Befreiungs-arbeit sein. Viele Überlebende behalten in sich einen "unzerstörten und unzerstörbaren innneren Kern", der bei ihrer Befreiung helfen kann.
Opfer, die gezwungen werden, Verbrechen zu begehen, sind keine Verbrecher und sollten auch nicht so behandelt werden. Dies haben z.B. die Siegermächte des 2. Weltkriegs eingesehen, als sie diejenigen Internierten in Konzentrationslagern, die gezwungen waren, andere zu selektieren, zu quälen und zu töten, nach der Befreiung zu Recht nicht unter Anklage gestellt haben. Wir brauchen also heute ebenfalls gesetzliche Möglichkeiten wie Zeugenschutz, Opferschutzprogramme und Kronzeugenregelung, um Aussagen von Überlebenden zu ermöglichen, die sonst Angst haben, sich selbst belasten zu müssen und dadurch im Gefängnis zu landen.
Im Bereich organisierte Kriminalität und rituelle Gewalt gibt es Täter und Opfer-Täter. Die Täter haben tatsächlich die Wahl, was sie tun und nicht tun. Die Opfer-Täter werden gezwungen, Grausamkeiten an anderen Lebewesen zu begehen; andernfalls sind sie vom Tode bedroht. Kein Täter im Kultbereich wird normalerweise Außen-stehende versuchen davon zu überzeugen, dass er schreckliche Dinge getan hat, für die er bestraft werden müsse. Es sind die Opfer, die glauben, dass sie schuldig und schlecht sind und bestraft werden müssen - aufgrund der Gehirnwäsche, denen sie durch die Täter ausgesetzt waren. In der Regel werden sie gezwungen, Grausamkeiten zu begehen, was sie nur in dissoziativem Zustand fertig bringen - und danach heißt es: "Schau dir an, was du getan hast! Du bist schlecht, ein Killer, man muß die Menschheit vor dir schützen! Nur bei uns bist du sicher. Wir werden dich nicht verraten - wenn du uns nicht verrätst, aber hier haben wir den Videobeweis, was du getan hast, und wenn du redest, dann ..."
Ein zentraler Punkt der Befreiungsarbeit (die häufig in Beratungs-stellen stattfindet), ist also, den Opfern und Überlebenden zu verdeutlichen: Wenn man machtlos ist, keine wirklich Wahl hat und unter gewalttätiger Kontrolle durch die Misshandler steht, war das, was man tat, ein Bestandteil der Viktimisierung. Dann hat man es nicht gewählt, Täter zu sein (...). Außerdem kann eine Tätergruppe es sich nicht leisten, das zu tun, vor dem sich Überlebende ritueller Gewalt fürchten, nämlich das Video mit ihren angeblichen freiwillig begangenen kriminellen Handlungen an die Polizei zu schicken - schließlich hätten die Filmer als nächstes eine kriminalpolizeiliche Ermittlung zu befürchten.
Allerdings gibt es auch Opfer, die zu Tätern werden und dann durchaus Freiheitsgrade ihren Handlungen erleben und sich bewusst für "das Böse" entscheiden können. Dies in der Beratung bzw. Therapie mit den Überlebenden sorgfältig zu explorieren und von reinen "Handlungsautomatismen" und erzwungenen Misshandlungen zu unterscheiden, ist auch Aufgabe der begleitenden Unterstützer- bzw. BehandlerInnen! Täterschaft, die verinnerlicht wurde und zum autonomen Bestandteil der Persönlichkeit geworden ist, zeigt sich oft auch außerhalb des Bereiches ritueller Gewaltszenarien, z.B. im Alltag gegenüber Schutzbefohlenen, Kindern, Haustieren ...
Quelle:
Michaela Huber, Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung Teil 1,
Junfermann Verlag Paderborn 2007